DAS DORF AM RANDE DER STADT
In Karlsruhe-Rüppurr wurde Anfang des 20. Jahrhunderts eine der ersten Gartenstädte Deutschlands gebaut. Sie ist heute noch ein beliebter Wohnort, an dem sich Stadt- und Landleben verbindet. Bei einer Führung erfährt man mehr über ihre Geschichte.
Nur wenige Minuten Fahrt sind es bis ins Karlsruher Zentrum – und doch scheint die Großstadt weit weg zu sein. Kein Straßenlärm stört die Ruhe. Über Holzzäune blickt man in Gärten und üppiges Grün. Inmitten einer bunt getupften Wildblumenwiese strahlen die weißen Blüten eines Hortensienstrauchs. Bohnen und Tomaten ranken an Stangen in die Höhe. Kräuter- und Gemüsebeete wechseln sich mit Rosenbüschen, Rasen und mit Bäumen ab, die an manchen Stellen ein Dach über den lauschigen Fußweg spannen.
Er wird Mistweg genannt und führt zwischen langen schmalen Gärten hindurch, an deren anderem Ende Häuser mit Giebeln und Dachgauben stehen. Sein wenig charmanter Name rührt daher, dass man auf ihm die Gartenabfälle wegkarren konnte. Und hier in Karlsruhe-Rüppurr wurde früher kräftig geackert. Das war ein wesentlicher Bestandteil im Konzept der Gartenstädte, das der Engländer Ebenezer Howard Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Sein Ziel war es, Orte zu schaffen, die Menschen gesunde Wohn- und Lebensverhältnisse bieten. Dazu gehörte auch ein eigener Garten für Obst und Gemüseanbau.
Durch die Industrialisierung waren die Städte rasant gewachsen, Bodenspekulationen und Mietwucher an der Tagesordnung und die Lebensbedingungen für die Menschen schwierig. „Ebenezer Howard wollte mit den Gartenstädten die Vorteile von Stadt und Land verbinden und sie als eigenständige Trabanten um die Städte anordnen“, sagt Sabine Straßburg. Die Architektin führt Besucher durch Karlsruhe-Rüppurr, wo 1907 die Genossenschaft „Gartenstadt Karlsruhe“ gegründet und ab 1911 eine der ersten Siedlungen dieser Art in Deutschland gebaut wurde. „Die Idee der Gartenstadt gehört zur damaligen Reformbewegung“, erklärt die Fachfrau. Ihnen liegt der genossenschaftliche Gedanke zugrunde – und der ist es auch, der Gartenstädte von anderen Siedlungen im Grünen unterscheidet, die zum Teil von Industriellen für ihre Arbeiter beauftragt wurden.
Howards Idee verbreitete sich von England aus in Europa und darüber hinaus. Die Gartenstädte sollten nach seinen Vorstellungen außerdem autark sein. Deshalb finden sich in Rüppurr am runden Ostendorfplatz, der den Eingang zur Gartenstadt bildet, bis heute einige Läden. Einen Kindergarten gab es und auch ein Volkshaus für gemeinsame Treffen, Feste und Veranstaltungen war geplant, wurde aber aus Geldmangel nie gebaut.
Vom Ostendorfplatz aus führt der von Bäumen gesäumte Holderweg hinein in die Gartenstadt. Astern, Rosen, Dahlien: Die Wege, an denen vorwiegend ein- und zweistöckige Häuserreihen liegen, sind nach Blumen benannt. Obwohl sich der ländliche Baustil mit bunten Klappläden ähnelt, entsteht kein gleichförmiges oder gar langweiliges Bild. Hausgröße, Fassaden und Farben wechseln und nicht alle Gebäude stehen vorne an der Kante, sondern sind nach hinten versetzt. Das schafft Raum für kleine Vorgärten oder Plätze für Begegnungen. Was Laien als harmonisch empfinden, ohne es begründen zu können, erklärt Expertin Sabine Straßburg: „Die Straßenräume haben einen Rhythmus: In der Horizontalen entsteht er durch Gesimse, Sockel und Dächer, in der Vertikalen durch Giebel und Rücksprünge.“ Außerdem verliert sich der Blick in die Straße nicht in der Ferne. Entweder macht sie eine Biegung oder ein Haus oder eine Hecke schließen die Straße am Ende ab.
Viele Wohnungen sind mit 40 bis 50 Quadratmetern eher klein. Dennoch warten Interessierte heute oft viele Jahre, bis sie einziehen können, denn die Gartenstadt ist ein beliebtes und gemischtes Viertel, wie die Architektin erklärt. Das bestätigt auch eine ältere Frau, die an der Gruppe vorbeispaziert. Seit den 1980er-Jahren wohnt sie hier. „Manche Gärten sind zwar nicht mehr schön, aber die Gartenstadt insgesamt ist es – und vor allem haben wir eine tolle Nachbarschaft!“
Früher lebten vor allem Beamte und Angestellte hier. „Viele Arbeiter konnten sich die 200 Mark als Einlage für die Genossenschaft nicht leisten“, sagt die Architektin. Auch Straßenbahnangestellte waren in der Gartenstadt zuhause, die schon damals direkt an einer Haltestelle lag: Ab 1898 verkehrte die Bahn, die die Arbeiter in die Spinnereien nach Ettlingen brachte. Hinter einer Mauer, die die Gleise von der Gartenstadt abschirmt, erstrecken sich Reihenhäuser mit den im Albtal weit verbreiteten Holzschindeln – teils strahlen sie im wiederhergestellten Glanz, andere wirken grau und vernachlässigt. Die Renovierung der Häuser ist eben aufwendig, „das gilt auch für die regionaltypischen Details wie die Holzschindeln“, sagt Sabine Straßburg.
Seit 1972 steht die Gartenstadt unter Denkmalschutz. Zwar ist zu sehen, dass seinerzeit nicht so viele Autos und Mülltonnen geplant waren. Der ländlich-entspannte Charakter der Gartenstadt ist aber immer noch zu spüren. Die großen Gärten dürfen nicht bebaut werden und so wird weiterhin eine herrliche Ruhe herrschen, obwohl die Karlsruher Innenstadt so nah ist. „Auch wenn sie den Ruf hat, flächenfressend zu sein“, sagt Sabine Straßburg, „bei der Frage, wie wir in Zukunft wohnen können, kann die Gartenstadt auch heute noch viele Anregungen bieten.“
Gut zu Wissen
Rüppurr liegt nahe der Alb im Süden von Karlsruhe. Führungen durch die Gartenstadt veranstaltet Stattreisen Karlsruhe: